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Film und Medien Stiftung NRWEvents70. Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst für „ATLAS“ von Thomas Köck

Mittschnitt der Verleihung:

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ATLAS“ von Thomas Köck, eine Produktion des MDR, hat den 70. Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst gewonnen. Das entschied eine 15-köpfige Jury unter Vorsitz der Kulturwissenschaftlerin Gaby Hartel. Die renommierte Auszeichnung, getragen von der Film- und Medienstiftung NRW und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV), wurde am 18. August im Rahmen einer Preisverleihung in Köln vergeben. Dabei wurden außerdem die Preisträger 2020 wittmann/zeitblom geehrt.

Portrait-Foto des Autors Thomas Köck

Autor: Thomas Köck
Produktion: MDR
Pressefoto: Thomas Köck – Foto: privat
Reinhören: bei mdr.de

Inhalt
Thomas Köck erzählt von der Arbeitsmigration in den 1980er-Jahren, vom Untergang der DDR und von einem Kind, das nach Vietnam reist, um den Weg seiner Vorfahren nachzuzeichnen. Über drei Generationen entfaltet sich eine komplexe Familiengeschichte: Die Großmutter floh kurz nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 mit ihrem Kind aus Saigon auf die Flüchtlingsinsel Pulau Bidong. Sie gehören zu den „Boatpeople“, auf der Überfahrt kenterte das Schiff, Mutter und Tochter wurden getrennt. Die Großmutter wurde schließlich als Kontingentflüchtling von der Insel gerettet und nach Westdeutschland gebracht. Nach einigen Jahren kehrte sie aus der BRD zurück nach Vietnam. Die Tochter hingegen ertrank entgegen der Annahme ihrer Mutter nicht und wuchs als Adoptivkind auf. Als junge Erwachsene bewarb sie sich als Vertragsarbeiterin und wurde in die DDR entsandt, die ab 1980 vietnamesische Gastarbeiter:innen aufnahm. Köck, der virtuos Bilder von Bootsflüchtlingen oder Wirtschaftsfragen im Gestern und Heute verschränkt, die Geschichten der Vergangenheit mit der hochtechnisierten Gegenwart, entwickelt eine ungewöhnliche und mitreißende Perspektive auf die politische Wende 1989 und eine vietnamesische Familiengeschichte, die in der DDR wie in der Bundesrepublik ihre Spuren hinterließ.

Jurybegründung

Als architektonisch-skulpturales Element trägt ein Atlas schwere Lasten; in der Anatomie stützt er unseren Schädel; als Sammlung von Landkarten bietet er geografische Orientierung, und die Kulturgeschichte kennt ihn seit Aby Warburgs und Gerhard Richters Bildersammlungen als symbolischen Fundus von in sich beweglichen Wirklichkeitsschichten.
Thomas Köcks Hörspiel „Atlas“ trägt all diese Aspekte des titelgebenden Begriffs in sich. Es geht um konkrete, historische und psychische Lasten, die sich mit geopolitischen Fragen verschränken. Vor allem aber besteht es aus vielen Wirklichkeitsfacetten, die eine engagierte Zeitgenoss*in seit Jahrzehnten beschäftigen mag. Der Autor erzählt von Arbeitsmigrant*innen der 1980er Jahre, vom „Mauerfall“ und den damit verbundenen psychosozialen Folgen; dann auch von den sogenannten „Boat People“, die nach dem Vietnamkrieg mit schlecht ausgerüsteten Booten aus dem Heimatland flohen und in Ost- und Westdeutschland als „Vertragsarbeiter“, respektive „Gastarbeiter“ Aufnahme fanden. Köcks Protagonistin macht sich auf die Suche nach ihrem Ursprung in Vietnam und dem Grund dieser Fluchtsituation. Auf der Folie ihrer Familiengeschichte wird immer auch an nationale Geschichte erinnert – wie etwa, wenn Köck ein Treffen von vietnamesischen Funktionären mit ihren DDR-Parteikollegen nachimaginiert. Und immer schwingt als Unterton der Erzählung das Bewusstsein von heutiger und längst vergangener Migrationsbewegungen mit. Gekonnt nuanciert der Autor zahlreiche gesellschaftliche Anspielungen und sein Stoff hätte das Zeug zu mehreren Melodramen. Doch Köck bleibt in dem von ihm abgesteckten konzeptionellen Rahmen, einer Reise, Jahrzehnte nach der erzwungenen Flucht, die auch als Reise in unser aller Geschichte der letzten vierzig Jahre gehört werden kann. Weil er seinen Figuren dabei sehr nahe kommt und sie von heute aus ohne ideologisches Korsett auf die Welt schauen lässt, betrachten auch wir sie aus einer frischen Perspektive. Das ist immer wieder notwendig. Denn, in den Worten des Autors: „Gäbe es eine Logik in der Geschichte, wir würden sie uns nicht dauernd erzählen müssen“.

Thomas Köck

Thomas Köck, geboren 1986 in Steyr, Oberösterreich. Er wurde durch Musik sozialisiert und studierte Philosophie in Wien sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Er arbeitete beim theatercombinat wien, war mit einem Dokumentarfilmprojekt über Beirut zu Berlinale Talents eingeladen, war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, bloggt mit Kolleg:innen auf nazisundgoldmund.net gegen rechts und entwickelt mit Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance konzertante readymades. Für seine Theatertexte wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Literaturpreis "Text & Sprache" des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft sowie 2018 und 2019 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis, zuletzt auch mit dem Publikumspreis der Mülheimer Theatertage NRW.

 

Die weiteren Nominierten

Im ebenfalls nominierten Hörspiel „Fünf Flure, eine Stunde – Hörspiel in einem Take“ (hr/SWR/Deutschlandfunk Kultur) wirft Luise Voigt einen angst- und vorurteilsfreien Blick auf Helfende und Hilfebedürftige im Altenheim. „Einsam stirbt öfter. Ein Requiem“ von Gesche Piening (BR) erzählt von den Menschen, die vereinsamt und unbemerkt versterben.

"Fünf Flure, eine Stunde – Hörspiel in einem Take"

Portrait-Foto der Autorin Luise Voigt

Autorin: Luise Voigt
Produktion: hr/SWR/Deutschlandfunk Kultur
Pressefoto: Luise Voigt – Foto: Sebastian Bühler
Reinhören: bei deutschlandfunkkultur.de

Inhalt
Schauplatz Pflegeheim – der Ort an dem sich nicht selten der so schmerzliche Abschied vom Leben ereignet. Das One-Take Hörspiel „Fünf Flure, eine Stunde“ nimmt die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit des verrinnenden Lebens und der Anforderungen an diesen Arbeitsort in den Blick. Besonders in der aktuellen Pandemiezeit wird spürbar, wie verletzlich und wie wertvoll diese Zeit und wie zart das Leben ist – speziell an diesem sensiblen Ort. Ein langes, reiches und eigenständig geführtes Lebens steht nicht selten im Widerspruch zu dem, was die meisten an dessen Ende erwartet: die letzten Lebensjahre im Altenheim. Unweigerlich entstehen an diesem Ort Ambivalenzen auf vielen Ebenen. Während den Bewohner:innen nur noch wenig Zeit in ihrem Leben bleibt, steht auch das Pflegepersonal – wenn auch auf ganz andere Weise – unter hohem Zeitdruck. So begegnen sich Helfende und Hilfebedürftige unausweichlich eingezwängt in die Taktung des Betriebs. „Fünf Flure, eine Stunde“ ist ein Wahrnehmungsspiel. Alles was wir hören ist echt, und ist es auch wieder nicht! Luise Voigt wirft einen neuen, angst- und vorurteilsfreien Blick auf diese letzte Etappe des Lebens.

Jurybegründung

Es gibt gesellschaftlich drängende Fragen, wie die der menschlichen Würde am Ende eines langen Lebens, die uns seit Jahren unter den Nägeln brennen. Auch künstlerisch werden sie immer wieder aufgegriffen und laufen damit Gefahr, uns, das Publikum, durch Gewöhnung zu ermüden. Luise Voigt vermeidet diese Gefahr, indem sie einen interessanten Weg geht und vom Leben und Pflegen in Altersheimen mithilfe eines nüchternen Konzepts erzählt. Auf fünf Fluren verschiedener Pflegeeinrichtungen nahmen sie und einige Mitstreiter*innen am selben Tag (dem 19. Mai 2019) zur gleichen Zeit (8.00 Uhr bis 9.00 Uhr) alles auf, was sich dort ereignete. Die fünf verschiedenen Takes wurden in einer Art O-Ton Reenactment-Collage von Schauspieler*innen nachgesprochen und fanden so einen eigenen Rhythmus und Ton. Mit dem Sound etwa der wiederkehrenden, professionellen Munterkeitsfloskeln des Personals und den kurzen Reaktionen der Alten gelingt es dem Hörspiel viel über den Pflegeberuf auszusagen. Das klug gewählte Stundenfenster spricht von der Überforderung und vom allgegenwärtigen Zeitdruck derer, die hier arbeiten, und lässt gleichzeitig die schier unendlich scheinende Leerzeit der dort Wohnenden schmerzhaft hervortreten. Wie viele unerzählte Geschichten aus einem reichen langen Leben mögen hier unausgesprochen sein! Wie hier erzählt die Autorin auch in anderen solcher Momente der eins-zu-eins Übertragung vom O-Ton auf den nachgespielten Hörraum mehr als sie tatsächlich sagt. Denn für dichte Erinnerungen bleibt in einem so mechanischen Stundentakt nun einmal kein Platz, und um die Alten aufblühen zu lassen, würde das Berufsfeld ein anderes Zeitfenster benötigen. Dass Luise Voigt die Kritik an diesem Zustand anhand der künstlerischen Form erzählt und durch ihr Publikum ausdecken lässt, ist eine große Leistung. Mögen politische Entscheider*innen zu diesem Publikum gehören.

Luise Voigt

Luise Voigt, geboren 1985, ist Regisseurin, Autorin und Medienkünstlerin mit Wohnsitz in Berlin. Sie inszeniert unter anderem am Theater Bonn, Theater Heidelberg und am Staatstheater Oldenburg und arbeitet als Hörspielautorin und -regisseurin für die Rundfunkanstalten SWR, hr und Deutschlandfunk Kultur.

 

"Einsam stirbt öfter – Ein Requiem"

Portrait-Foto der Autorin Gesche Piening

Autorin: Gesche Piening
Produktion: BR
Musik: Maasl Maier, Marja Bruchard
Pressefoto: Gesche Piening – Foto: Marcus Gruber
Reinhören: bei br.de

Inhalt
Eine Aussegnungshalle, eine Trauerfeier, ein Verstorbener – aber keine Trauernden. Geboren, gelebt und gestorben. Mitten in der Stadt. Unter Menschen und doch fremd. Was ist da passiert? Einsam stirbt öfter erzählt von all denen, die mitten in der übervollen Großstadt vereinsamt leben, unbemerkt versterben und schließlich von Amts wegen bestattet werden, weil niemand sonst ihre Totenfürsorge übernehmen will oder kann. Wie konnte es so weit kommen? Wie wurde ihr Leben zu dem, was es am Ende war? Was ist da passiert? Geboren, gelebt und gestorben. Einsam geworden, einsam gestorben. Verloren gegangen. Irgendwann. – Fremd unter Menschen im Leben, fremd und alleine bis in den Tod. Von Fremden bestattet, von anderen nicht weiter bemerkt. Was ist da passiert? Gab es Familie? Freunde? Nachbarn? Einen Bäcker, der den Toten vermisst? Eine Briefträgerin, die feststellt, dass die Frau, die niemals Post bekam, nun auch nicht mehr die Wohnung verlässt? Was bleibt, wenn keiner zurückbleibt, der weint? Einsam stirbt öfter erkundet, was im Leben wirklich wichtig ist. Wie müssen wir leben, um glücklich zu sterben?

Jurybegründung

In den letzten fünfzehn Monaten wurde öfter darüber geklagt, dass auch Begräbnisse unter Coronabedingungen stattzufinden hatten: Der Familienfestcharakter wurde vermisst, der einem endgültigen Abschied erst die tröstliche Würde verleiht. Dass es Menschen gibt, die ohne jegliches soziales Umfeld aus dem Leben scheiden, wissen wir natürlich. Doch „Einsam stirbt öfter“ verwandelt dieses theoretische Wissen in Erfahrung.

Unmittelbar und doch sehr leise rückt die Autorin das Schicksal einsam Verstorbener in den Fokus. Sie greift dabei auf Recherchen für ein Feature zurück, das sie 2019 für den Bayerischen Rundfunk schrieb. Doch nun bettet Piening ihre eindringlichen Fragen in einen Erzählraum ein. Wie konnte es zu einem solchen Ende kommen? Gab es keine Familie? Keine Bekannten? Stilistisch arbeitet die Autorin, die auch Regie führte, mit einem reichen Formenrepertoire, das aus fiktionalen, dokumentarischen, lyrischen und musikalischen Mitteln besteht. Jede Szene hat ihren speziellen Rhythmus, ihre eigene Formensprache und lebt in ihrem eigenen akustischen Raum. Weder inszeniert noch arrangiert Gesche Piening ihr O-Tonmaterial, sie verdichtet es. Und gerade darin besteht ihre Kunst im Umgang mit dem Stoff: Es wird nichts erfunden aber die Wirklichkeit gewinnt an Tiefe und damit an lange nachklingender Bedeutung. So wird dieses Hörspiel auch zum künstlerischen Plädoyer gegen die Ächtung der Einsamkeit, einem Zustand, unter dem Millionen leiden – sofern er nicht selbstgewählt und zeitlich begrenzt ist.

Gesche Piening

Gesche Piening ist Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Dozentin. Nach dem Abitur studierte sie an der Otto-Falckenberg-Schule in München Schauspiel. Ihre Theaterarbeiten sind bundesweit in diversen Theaterhäusern und auf Festivals zu sehen und überschreiten die Grenzen zwischen Theater, Literatur, Bildender Kunst und Hörfunk. Piening setzt sich stets mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinander und verarbeitet diese in collagenhaft montierten Bühnentexten. Für ihre bisherige künstlerische Arbeit wurde sie 2016 mit dem Ödön-von-Horváth-Preis (Förderpreis) ausgezeichnet.

Der Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst wird seit 1952 jährlich an ein für einen deutschsprachigen Sender konzipiertes Original-Hörspiel verliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert. Im vergangenen Jahr übernahm der DBSV die Mitträgerschaft vom Bund der Kriegsblinden.

Die Jury des 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst