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NRW@Berlinale: "Blutsauger"

Die filmstiftungsgeförderte Produktion "Blutsauger" von Julian Radlmaier wird am Mittwoch, 3. März, um 13.30 Uhr beim Online Industry-Event der 71. Internationalen Filmfestspielen Berlin (01.-05.03.) in der Reihe Encounters gezeigt. Julian Radlmaier zeichnet für Regie und Drehbuch der Vampirkomödie verantwortlich, für das er 2019 bereits mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde. Die Hauptrollen spielen Alexandre KoberidzeLilith Stangenberg, Alexander Herbst, Andreas Döhler und Corinna Harfouch. Faktura Film produzierte unter Senderbeteiligung von WDR und Arte. Den Verleih übernimmt GrandfilmArri Media zeichnet für den Weltvertrieb verantwortlich. Die Filmstiftung förderte das Projekt, das auch in Solingen, Bochum und Erftstadt realisiert wurde, in Produktion und Verleih mit insgesamt 170.000 Euro.

 

Der Autor Oliver Baumgarten hat für das Magazin "Film und Medien NRW" einen Artikel zu "Blutsauger" verfasst:

Encounters

»Blutsauger«

Mit ihrem zweiten langen Spielfilm »Blutsauger« erhielten Regisseur Julian Radlmaier und Produzent Kirill Krasovski eine Einladung in den Encounters-Wettbewerb der Berlinale, der 2020 eingeführt wurde, um »neue Stimmen des Kinos zu unterstützen«.

»Ein Gespenst geht um in Europa« – schon die erste Arbeit von Regisseur Julian Radlmaier und Produzent Kirill Krasovski wies 2011 mit ihrem Titel unmiss­verständlich auf einen Bezugsrahmen, der auch nach vier Filmen noch zentrale Bedeutung hat in ihrem filmischen Werk: die kritische Betrachtung unseres marktzentrierten Gesellschaftsentwurfs. Nun ist nicht jeder ihrer Filme gleich mit einem Satz aus Marx‘ und Engels‘ Kommunistischen Manifest überschrieben, und doch verweisen die Titel klar auf den Zusammenhang: »Ein proletarisches Wintermärchen« (2013), »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« (2015) und aktuell »Blutsauger« – wer »Das Kapital« von Karl Marx gelesen hat, wird sich an die Ursprünge der Allegorie von Vampirismus und Kapitalismus erinnern.

Marxsche Gegenerzählungen

»Blutsauger« spielt 1928 und erzählt vom Fabrik­arbeiter Ljowuschka, der von Sergej Eisenstein für dessen Film »Oktober« als Leo Trotzki besetzt wird. Als Trotzki bei Stalin in Ungnade fällt, werden noch vor der Premiere alle Szenen Ljowuschkas aus dem Film geschnitten. Enttäuscht beschließt er, es mit einer Schauspielkarriere in Hollywood zu versuchen und landet bei der Durchreise in einem noblen Ostseebad, wo er als Aristokrat verkleidet bei der exzentrischen Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen Unterschlupf findet. Er bändelt mit ihr an und wird zunehmend mit der Legende konfrontiert, ein Vampir treibe in der Gegend sein Unwesen.

Bei aller Vielfalt wunderbarer Anspielungen: Radlmaiers Filme sind alles andere als Agitprop-Werke. Für ihn sind die Marxschen Ideen als Gegenerzählung zum Kapitalismus lediglich äußerst dankbares Analyseinstrument für die aktuelle Situation unserer Gesellschaft: »Sie helfen, das Denken über die Gegenwart komplexer zu gestalten«, drückt es Radlmaier aus. Von dieser Grundprämisse ausgehend, entwickeln sich seine Filme jeweils zu einem klugen und immer humorvollen wie (selbst-)ironischen Geflecht aus Bezügen und Anspielungen aus Kunst, Philosophie und Politik, die auch Wider­sprüche und Gegensätze nicht scheuen. Diese belebende und bereichernde Ambivalenz zeigt sich zudem in der filmischen Umsetzung, wenn Laien mit professionellen Schauspieler*innen agieren, wenn

in üppigen Bildtableaus moderne Requisiten historische Settings ergänzen und wenn geschriebene zu gesprochener Sprache wird. Die Einheit all dessen bildet eine Filmsprache, die eigenwillig, persönlich und einzigartig ist und sich über vier Filme hinweg kontinuierlich entwickelt und verfestigt hat.

Kein Selbstläufer

Dass »Blutsauger« nun am Encounters-Wettbewerb der Berlinale teilnimmt, wirkt wie eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung und stellt doch gleichsam eine Besonderheit dar im deutschen Film der Gegenwart, der eigenwillige und mutige Filmsprachen nicht eben den Teppich ausrollt. Für den ersten Langfilm »Selbst­kritik eines bürgerlichen Hundes«, der nach Rotterdam auch zur Perspektive-Sektion nach Berlin geladen wurde, hatte Radlmaier 2017 den Preis der deutschen Filmkritik für das Beste Spielfilmdebüt erhalten. 2018 folgte zur weiteren Entwicklung von »Blutsauger« der Kompagnon Förderpreis der Berlinale sowie ein weiteres Jahr später für das noch unverfilmte Drehbuch der Gewinn des Deutschen Filmpreises. Dass es trotzdem kein Selbstläufer war, die am Ende 2,3 Mio. Euro Budgetkosten für den Dreh von »Blutsauger« zusammen zu bekommen, lässt sich erahnen. Angesichts erster Gremien-Absagen wegen »fehlenden kommerziellen Poten­zials«, empfinden es beide aber als großes Glück, dass sich Redakteur Frank Tönsmann vom WDR sehr begeistert dem Projekt gegenüber zeigte und als erster Partner zusagte. Nach dem BKM folgte neben weiteren Regionalförderern die Film- und Medienstiftung NRW, die nicht nur die Produktion, sondern später auch den Verleih des Films unterstützte.

Julian Radlmaier und Kirill Krasovski ist es mit »Blutsauger« also gelungen, viele Partner für ein Projekt zu begeistern, das exemplarisch steht für ein persönliches, unangepasstes, mutiges Kino. Solche Filme zu machen, sagt Radlmaier, fühle sich manchmal fast irrational an, weil man etwas tue, von dem man immer gesagt bekäme, dass man‘s nicht tut. Es geschieht aber aus der Logik der Persönlichkeit heraus: »Ich möchte genau diese Art von Filmen machen. Wenn das nicht geht, dann lasse ich es ganz.« Diese Konsequenz gepaart mit einer überzeugenden künstlerischen Vision hat genügend Türen geöffnet, um den Film zwischen November 2018 und Juli 2019 zu finanzieren und nur einen Monat später mit den Dreharbeiten zu beginnen, u. a. in Bochum, Solingen und Erftstadt.

Unangepasstes mutiges Kino

Kennen gelernt haben sich Radlmaier und Krasovski an der Berliner dffb, auf der Terrasse der Caféteria – ein offenbar schicksalhafter Ort. 2009 haben sie ihr Studium begonnen und gleich nach dem ersten Übungsfilm zueinander gefunden. Krasovski erinnert sich, dass ihn besonders der Humor in Verbindung mit der politischen Perspektive an Radlmaier interessiert habe, weil es originell gewesen sei, anders. »Sich inspirieren zu lassen, Entdeckungen zu machen und nicht gleich zu wissen, wie’s wird«, das habe ihn insbesondere gereizt.

Auch die beiden können kaum glauben, wie stark ihr dffb-Jahrgang an der diesjährigen Berlinale beteiligt ist. Im Encounters-Wettbewerb treten sie gemeinsam mit ihren ehemaligen Kommilitonen Ramon und Silvan Zürcher an, die ihren Schweizer Beitrag »Das Mädchen und die Spinne« vorstellen. Und dann ist da natürlich die irrwitzige Fügung, dass ihr Hauptdarsteller Alexandre Koberidze, ebenfalls gleicher Studienjahrgang und zum dritten Mal als Schauspieler an einem Radlmaier-Film beteiligt, mit seinem zweiten Spielfilm »Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?« am Berlinale-Wettbewerb teilnimmt. Überhaupt faszinierend, wer da dank der Radlmaierschen Vorliebe, Laien mit professionellen Schauspieler*innen zusammen agieren zu lassen, gemeinsam durch den Vampirfilm wandelt: der österreichische Independentregisseur Daniel Hoesl, Filmkurator Ludwig Sporrer, dazu verschiedene Musiker, Film- sowie weitere Kulturschaffende neben u. a. den Schauspielerinnen Lilith Stangenberg und Corinna Harfouch. »Die professionellen Schauspieler*innen«, so Radlmaier, »müssen plötzlich in einer ganz anderen Umgebung agieren, in der sie kaum konventionelle Spielangebote erhalten, während die Laien sich in ungewohnte fiktionale Zusammenhänge begeben.« Diese Heterogenität der Darstellungsweisen trägt erheblich zum Erlebnis der Radlmaier-Filme bei.

Der historische Ljowuschka, jener Laienschauspieler, den Eisenstein aus seinem »Oktober« geschnitten hat und der einer Überlieferung nach »eine Art Zahnarzt« gewesen sein soll, hätte sich ganz sicher ebenfalls hervorragend in den Film eingefügt. Als Blutsauger.

Grandfilm wird »Blutsauger« voraussichtlich noch in diesem Jahr in die deutschen Kinos bringen.

Oliver Baumgarten